Sterben, Tod und Reinkarnation im tibetischen Buddhismus
Sterben-Tod-Reinkarnation im tibetichen Buddhismus
Die Totenriten wurden in Tibet
zumeist von einem oder mehreren Lamas[1] des
nächstgelegenen Klosters ausgeführt. Zuerst rief man einen in Astrologie
versierten Lama, der die genaue Todesstunde feststellte, die selten mit der des
physischen Ablebens identisch war, sondern in der Mehrzahl der Fälle bereits
einige Monate zurücklag, da man die Stunde, zu der die Lebenskraft des
Individuums verbraucht war, als wirkliche Todesstunde ansah. Die Form der
Todesriten richtete sich nach dem, was die Astrologie über die Todesstunde zu
sagen wußte.
In dem Hause des Verstorbenen wurde
nach einem Todesfall eine bestimmte Zeit lang das Tibetische Totenbuch[2]
rezitiert. Es beinhaltet Anleitungen, wie der Verstorbene mit den Erfahrungen,
die er nach dem physischen Tod in den verschiedenen darauf folgenden
Zwischenzuständen (den Bardos) macht, umgehen soll. All dies geschieht unter
der Voraussetzung, daß das Bewußtsein des Toten in irgendeiner Form anwesend
ist und die Instruktionen hört.
Gemäß des Tibetischen Totenbuches
bestehen die Nachtod-Erfahrungen aus einer Reihe von Prüfungen, die alle eine
Möglichkeit zur Erleuchtung darstellen; Erleuchtung hat hier die klassisch
buddhistische Bedeutung von „Befreiung aus dem Zyklus der Wieder-geburten“.
Werden alle diese Gelegenheiten verpaßt, dann wird das Bewußtsein in einem
neuen Körper wiedergeboren, was im Normalfall nach etwa neunundvierzig Tagen
geschehen soll.
Der Moment des physischen Todes
stellt die erste Gelegenheit zur Erleuchtung dar. Man nennt diesen Bardo „Das
Klare in den Augenblicken des Todes gesehene Urlicht“.
Dem
Verstorbenen wird erklärt, daß dieses ´Licht ein Aufblitzen des tiefsten und
reinsten Wesens seines Bewußtseins ist und mit dem Buddhawesen identisch sei`:
Was passiert nach dem Tod?
„Hat die Ausatmung vollends
aufgehört,[...] Dein eigenes Bewußtsein, das zu nichts geformt und in
Wirklichkeit leer ist, und der (erkennende) Geist, leuchtend und glückselig –
diese Beiden sind unzertrennlich. Die Vereinigung von beiden ist der
Dharmakaya-Zustand vollkommener Erleuchtung.
Dein eigenes Bewußtsein, leuchtend,
leer und untrennbar von dem großen Strahlungskörper, hat weder Geburt noch Tod
und ist das unveränderliche Licht-Buddha Amitªbha. [...]“[3]
Erkennt der Verstorbene dieses Licht als den Ursprung seines Bewußtseins und wird eins mit ihm, hat er damit die Befreiung erlangt. Die meisten sind dazu aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage: Angst, Unwissenheit, fehlende meditative Schulung führen zu einem Weiterwandern im Nachtod-Zustand.
Nur wenige Minuten nach dem
„Klaren-Urlicht“ macht der Verstorbene eine andere, ähnliche Erfahrung, die
Erfahrung des „sekundären sofort nach dem Tod gesehenen Klaren Lichts“. Das
Licht hat ein wenig an Strahlenkraft verloren. Lama Dawa Samdup, der Übersetzer
des Totenbuchs, erklärt dazu: „Ein aufspringender Ball erreicht seine größte
Höhe beim ersten Rücksprung. Der zweite Rücksprung ist niedriger, und jeder
folgende Rücksprung ist noch niedriger, bis der Ball zur Ruhe kommt. Ähnlich
verhält es sich mit dem Bewußtseinsprinzip beim Tod eines menschlichen
Körpers.“[4]
Kann das Bewußtsein das sekundäre Klare Licht nicht begreifen, muß es zum Tschönyi-Bardo, der nächsten Stufe des Zwischenzustandes, weiterwandern.
Einige Minuten nach dem physischen
Tod (der tibetische Text nimmt es mit den Zeitangaben nicht so genau) wird das
Bewußtsein gewöhnlich der Vorgänge im toten Körper gewahr. Es sieht das
Sterbezimmer und die Menschen, die sich darin befinden.
Zu dieser Zeit kann es zu großer
Not und Verwirrung kommen, denn der Verstorbene weiß möglicherweise noch nicht,
daß er gestorben ist, und versucht, zu den Lebenden zu sprechen. Bald darauf
erfährt das vom Körper getrennte Bewußtsein des Toten erschreckende und
furchteinflößende Lichter und Töne, und ein wenig später beginnt es
Erscheinungen zu sehen.
Die erste Kategorie von
Erscheinungen sind die „Friedvollen Gottheiten“, Das Tibetische Totenbuch
beschreibt sie in allen Einzelheiten, worauf ich hier verzichten möchte; es
sind bekannte Figuren aus dem Pantheon des Vajrayªna-Buddhismus.
Jede Erscheinung wird als lebendige Realität erfahren und wird von
verschiedenfarbigem gleißenden Licht begleitet. Immer wieder wird der
Verstorbene im Totenbuch daran erinnert, daß auch sie Manifestationen seines eigenen
Bewußtseins sind.
Andere Nach-Todeserfahrungen für Christen?
Evans-Wentz spekuliert in seiner Einleitung, daß bei Menschen anderer Religionszugehörigkeit die archetypischen Kräfte seines Bewußtseins in diesem Bardo in anderer Form in Erscheinung treten. Der Tibeter sieht die Bilder, die ihm von Thagkas (tibetische Rollbilder, die als Meditationsvorlage dienen) und Tempelfresken vertraut sind, ein Christ möglicherweise die Dreifaltigkeit oder etwa die Jungfrau Maria etc.. Wie die Träume, so sind diese Erscheinungen Emanationen der menschlichen Psyche. Der Lama, der dem Verstorbenen das Totenbuch laut vorliest, mahnt immer wieder: „O Edelgeborener, diese Reiche rühren nicht von irgendwo außerhalb (deiner selbst) her. Sie kommen von innerhalb der vier Abteilungen deines Herzens, die, den Mittelpunkt hinzugerechnet, die fünf Richtungen ausmachen. Sie kommen von da innen heraus und scheinen auf dich. Auch die Gottheiten sind nicht von sonst irgendwoher gekommen: sie existieren von Ewigkeit her innerhalb der Fähigkeiten deines eigenen Geistes. Wisse das sie von solcher Natur sind.“[5]Wie die „Klaren Lichter“ sind die Friedvollen Gottheiten Möglichkeiten, die Befreiung zu erlangen. Erkennt das Bewußtsein, daß sie seine eigene Schöpfung sind und wird mit ihnen eins, dann hat es die Subjekt-Objekt-Dichotomie transzendiert, welche die Ursache seiner Ängste und Verwirrung ist.
Sieht man die Aussagen des
Tibetischen Totenbuches als wahr an, so erhalten die verschiedenen Vajrayªna-Übungen, wie Meditation und
Traumyoga, eine neue Bedeutung, da sie dann nicht nur Wege sind um die
verschiedenen Dimensionen des Lebens zu erforschen, sondern auch eine
Vorbereitung auf den Tod darstellen.
Ist der Verstorbene nicht in dieser
Form geschult und vermag nicht die Friedvollen Gottheiten der ersten sieben
Tage nach dem Tod zu erkennen, betritt er ein weiteres, jedoch wesentlich
erschreckenderes Stadium des Nachtod-Zustandes, in dessen Verlauf die
„Zornvollen Gottheiten“[6]
erscheinen. Schon die Friedvollen und Wissenshaltenden Gottheiten des
vorangegangenen Stadiums waren in ihrer Wucht und Größe erschreckend. Die nun
folgenden Erscheinungen werden jedoch als mehr als entsetzlich beschrieben. Das
Auftreten dieser monströsen Gestalten wird von angsteinflößendem Dröhnen und
schrillen Lauten begleitet. Sie schwenken Waffen und trinken Menschenblut aus
Schädelschalen. Wie zuvor wird der Verstorbene auch hier dazu aufgefordert, die
Gottheiten als Manifestation seines eigenen Bewußtseins zu erkennen, um damit
Erleuchtung und Freiheit zu erlangen.
Bei diesem Aspekt wird eine
grundlegende Vorstellung der Psychologie des Vajrayªna deutlich, daß Projektionen des
Bewußtseins eine „friedvolle“ und eine „rasende“ Seite haben können.
War der Verstorbene bisher nicht in
der Lage, den Instruktionen des Totenbuches Folge zu leisten, wandert das
Bewußtseinsprinzip zum Sipa-Bardo weiter und kann dort bis zu zweiundzwanzig
Tagen verweilen. Neue Visionen und Prüfungen stehen bevor, und in ihrem Verlauf
treibt das Bewußtsein immer weiter auf die unerwünschte Wiedergeburt in einem
neuen Körper zu. Einige Erfahrungen des Sipa-Bardo erinnern an die
Schilderungen von Himmel, Hölle und Fegefeuer in den christlichen Schriften.
Schlechtes Karma bewirkt negative Todeserfahrung
Personen, die viel schlechtes Karma
auf sich geladen haben, werden bestraft, wie etwa die Verfolgung durch wilde
Tiere oder fleischfressenden Dämonen. Sie sind heftigen Stürmen ausgesetzt,
werden unter Felslawinen begraben etc.. Personen, die im Laufe ihres Lebens
viele Verdienste angesammelt haben, erfahren Glück und Zufriedenheit, und jene,
deren Leben weder gut noch schlecht war, verfallen in stupide Indifferenz.
Wie die Erfahrung auch beschaffen
sein mag, dem Verstorbenen wird geraten, sich nicht damit zu identifizieren
oder daran zu haften; das beste ist, wenn er während dieser Erfahrungen in
einem meditativen Zustand verweilen kann. Sind keinerlei Meditationskenntnisse
vorhanden, so sollte der Betroffene versuchen achtsam zu bleiben, aufmerksam zu
verfolgen, was geschieht, und es zu analysieren.
Das Totenbuch erklärt die
verschiedenen Formen der Erlebnisse durch karmische Einflüsse und die
individuelle Psyche des Verstorbenen. Gegen Ende des Sipa-Bardo kommt der
Moment der Wiedergeburt immer näher, und das Bewußtsein erlebt sexuelle
Phantasien sich vereinigender Paare. Selbst in diesem fortgeschrittenen Bardo
ist Befreiung noch möglich; das Totenbuch empfiehlt bestimmte Meditationen, die
dazu verhelfen sollen. Läßt sich die Rückkehr in einen neuen Lebenszyklus unter
keinen Umständen vermeiden, wird der Verstorbene darüber belehrt, wie er eine
gute Wiedergeburt erlangen kann. Das Bewußtsein hat in diesem Stadium gewisse
hellsichtige Fähigkeiten und kann wenigstens ungefähr voraussehen, in welche
Art von Leben es eintreten könnte.
Das Vajrayªna kennt einen feinstofflichen
Körper, der zwar dem physikalischen Körper entspricht, aber nicht von
physikalisch faßbarer Stofflichkeit ist. Die NªdÌs und Chakras, mit denen die
tantrische Meditationspraxis arbeitet, gehören zu diesem feinstofflichen Körper
und funktionieren auch nach dem Ableben des physischen Körpers.
Lama Govinda führt in seiner Einleitung zum Totenbuch aus,
daß es ebenso- oder sogar hauptsächlich- als esoterisches Dokument zu verstehen
ist, für die Lebenden zur Einweihung und Übung bestimmt. Er läßt die Vielfalt
der Anwendungsmöglichkeiten des Tibetischen Totenbuches erkennen, und gibt
gleichzeitig Hinweise auf seine Quellen.
Es läßt sich auch als Lehrbuch über
die tiefen und fortgeschrittenen Stadien tantrischer Meditationen gebrauchen,
die allesamt erst nach entsprechender Einweihung gemeistert werden können, und
es wurde wahrscheinlich von Personen verfaßt, die die meditativen Praktiken zur
Erforschung der Geheimnisse der menschliche Psyche und des menschlichen Seins
gemeistert hatten:
„Es gibt Menschen, die aufgrund
ihrer Konzentration und anderer Yoga-Praktiken imstande sind, die Inhalte des
Unterbewußtseins in den Bereich des aktiven, unterscheidenden Wachbewußtseins
zu erheben, so daß es ihnen möglich ist, von dem unerschöpflichen Reichtum
jenes Tiefengedächnisses Gebrauch zu machen, in dem nicht nur unsere
vergangenen Existenzen, sondern die Vergangenheit unserer Rasse, die
Vergangenheit der Menschheit und aller vormenschlichen Lebensformen – wenn
nicht gar jenes Bewußtseins, welches erst alles Leben dieses Universums möglich
macht – aufgespeichert sind.“[7]
[1]
Lamas, die (wie im Tibetischen Totenbuch geschrieben steht) nicht nur mit den
Bewußtseinszuständen des Lebens nach dem Tod vertraut waren, sondern die auch
Techniken kannten, mit diesen zu arbeiten.
[2]
Dessen Originaltitel wörtlich übersetzt: „Die Große Befreiung durch Hören im
Nachtod-Zustand“ heißt.
Das
Tibetanische Totenbuch, nach der englischen Fassung des Lama Kazi Dawa-Samdup,
herausgegeben von W.Y. Evans- Wentz, Freiburg im Breisgau 1974, Seiten 170 ff.
[3]
Ibidem, Seite 171.
[4]
Ididem, Seite 173.
[5]
Ibidem, Seite 197.
[6]
Auch als die „Rasenden Gottheiten“ übersetzt.
[7]
Evans-Wentz (Hrsg.), op. Cit., S. 21.